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Johann Wolfgang Goethe
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Eins und Alles

Im Grenzenlosen sich zu finden,
Wird gern der einzelne verschwinden,
Da löst sich aller Überdruß;
Statt heißem Wünschen, wildem Wollen,
Statt lästgem Fordern, strengem Sollen,
Sich aufzugeben ist Genuß.

Weltseele, komm, uns zu durchdringen!
Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen,
Wird unsrer Kräfte Hochberuf.
Teilnehmend führen gute Geister,
Gelinde leitend höchste Meister
Zu dem, der alles schafft und schuf.

Und umzuschaffen das Geschaffne,
Damit sich's nicht zum Starren waffne,
Wirkt ewiges, lebendiges Tun.
Und was nicht war, nun will es werden
Zu reinen Sonnen, farbigen Erden;
In keinem Falle darf es ruhn.

Es soll sich regen, schaffend handeln,
Erst sich gestalten, dann verwandeln;
Nur scheinbar steht's Momente still.
Das Ewige regt sich fort in allen:
Denn alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.





Rüdiger Gellert

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Eine Hymne an die Metamorphose?


Einleitung: - Im folgenden soll eine Interpretation des Gedichtes "Eins und Alles" von Johann Wolfgang Goethe, welches zwischen 1820 und 1822 (Jena / Weimar) entstand, vorgenommen werden. Hierbei soll die Analyse der semantischen Ebene, insbesondere die von Isotopien, Oppositionen und deren Verknüpfung bzw. mögliche Interaktion den Schwerpunkt bilden, da auf diesem Feld, um einen technischen Ausdruck zu wählen, die höchste Ausbeute in Erwartung zu stehen scheint. Allerdings sollen auch andere, nicht zu unterschätzende Bereiche, so z.B. die Pragmatik, die Lautebene und Tropen, wie Metapher und Metonymie, in die Betrachtungen mit einbezogen werden.

Analyse: - Beim erstmaligen Betrachten des Textes scheint der Leser zunächst vor einem Problem zu stehen: Kaum lässt sich Fassbares finden, Assoziationen wie Verwischen, Transzendieren und, im Besonderen in der zweiten Hälfte des Gedichtes, Metamorphosen drängen sich auf. Heraklits Ausspruch "alles fließt" scheint Programm zu sein. Der Text erscheint wie ein einziges fließendes Protoplasma, das sich jeglicher Untersuchung entzieht.

Sucht man auf der Ebene der Pragmatik nach einem Sprecher so wird man in der siebten Zeile fündig:

Weltseele komm uns zu durchdringen!

Der hinter dem Imperativ "komm" und bestärkendem Ausrufungszeichen stehende Sprecher, wobei das Personalpronomen "uns" für die gesamte Menschheit oder eine Gruppe steht, ruft hier fordernd ein transzendentes, durchdringendes Etwas, die Weltseele als Adressaten an. Eine weitere Stelle die einen Sprecher zumindest ahnen lässt, findet sich in Zeile zweiundzwanzig:

Das Ewige regt sich fort in allen!

Der Vers erschiene ohne Ausrufungszeichen als bloße Feststellung, ist hier aber als Ausruf geradezu ein Postulat, das keinesfalls überhört werden soll und ein deutlicher Hinweis auf einen "gut versteckten" Sprecher. Bedeutsam, in gewisser Weise markierend scheint auch die Tatsache, dass beide Verse als einzige aus dem ansonsten ungebrochenen Rhythmus des vierhebigen Jambus fallen. Das nach dem Trochäus verlangende Wort "Weltseele" bekommt steigend betont einen allzu fremdartigen Klang, das "Ewige" bringt den Vers im Gegensatz zu "das Ew´ge" ein wenig ins "Holpern". Ebenso bemerkenswert erscheint die Verwendung von "allen" statt "allem". Ein Bezug auf die Menschheit drängt sich auf. Dass der schwer zu verortende Sprecher den gesamten Prozess zeitlich wie räumlich zu überblicken scheint, legt die Implikation nahe, er schwebe gleichsam in und über allem (sehr gewagt). Zumindest ist mit Äußerungen wie "Weltseele komm uns zu durchdringen!" und dem "gern im Grenzenlosen verschwinden" der Wunsch dazu ausgedrückt.

Isotopien: - Insgesamt konnten sieben Isotopien ausgemacht werden, wobei im Einzelnen Oppositionen, Verbindungen und Unterordnung dieser vorhanden sind und man so durchaus von einem Isotopie-Netzwerk sprechen kann. Die für den Text und seinen Inhalt bedeutsamste, und im Hinblick auf die Anzahl der Worte, umfangreichste Isotopie steht für Bewegung, im engeren Sinne für Entstehung und Umwandlung - Werden und Metamorphose:

Schafft; schuf; umzuschaffen; Wirkt; ewiges, lebendiges Tun; regend; schaffend handeln; gestalten; verwandeln; regt ... fort; ...werden

Besonders hervorzuheben weil kennzeichnend für den Vorgang der Metamorphose sind die Verben "umschaffen" und "verwandeln", ebenso wie das lebendige Tun.

Bei näherer Betrachtung kann der Bereich des Werdens und Entstehens von dem der Umwandlung getrennt werden. Er stellt eine Art Unter-Isotopie dar, die zugleich als für die Metamorphose konstituierend, als notwendige Vorstufe (Keimzelle) aufgefasst werden kann:

Schafft; schuf; schaffend handeln; gestalten;
(Und was nicht war nun will es) werden

Es ist einleuchtend, dass das, was nicht zuvor geschaffen wurde, nicht umgestaltet werden kann. Eine Überlappung ergibt sich mit dem Verb "gestalten", das sowohl für entwerfen i.S.v. neuschöpfen, als auch für formgeben für bereits Erschaffenes stehen kann. Da "werden" sowohl für Entstehen als auch für damit verbundene Veränderungen stehen kann, stellt es ebenso eine Verbindung zwischen den beiden Isotopien dar, der weitere folgen sollen. Die eben besprochene, in sich verschachtelte Isotopie (man kann sie auch als zwei auffassen) steht in Opposition zu der folgenden, die mit "Stillstand" betitelt wurde:

Ruhn; steht`s ... still; Sein; beharren; zum Starren

Als am augenfälligsten sind "beharren" und "zum Starren" (das sich noch dazu zu waffnen droht!), besonders auch auf der lautlichen Ebene. Semantisch (absolut unbeweglich, festgelegt) wie lautlich (...arr) machen beide einen relativ harten Eindruck.

Beide Isotopien stehen in einem "Sein - Werden - Verhältnis" zueinander, Bewegung und Stillstand. Auffällig ist, dass diese Isotopie vergleichsweise "klein" ausfällt und obwohl Quantität in Bezug auf das Vorkommen signifikanter Wörter allein kein Maßstab sein sollte, wird auch allein schon in Hinblick auf die letzten beiden Verse "Denn Alles muß in Nichts zerfallen / Wenn es im Seyn beharren will." klargestellt wo hier die Gewichtung liegt - Stillstand bedeutet Tod. Verstärkend wirkt noch dazu, dass in Zeile sechzehn "Und was nicht war nun will es werden" geradezu ein Drang und Eigenantrieb impliziert wird. Der Prozess läuft und steht nur scheinbar, d.h. nicht einmal Momente still (Zeile 21).

Eben genannte Isotopie steht in Verbindung mit einer weiteren, die sich auf das Sein selbst, den Kosmos bezieht und pantheistische Züge aufweist (Unterstrichenes):

Grenzenlosen; Weltseele; Weltgeist; gute Geister; durchdringen; das Geschaffne; das Ewige; Sein

Das Grenzenlose und das Geschaffene stehen hier offensichtlich metaphorisch für den Kosmos bzw. die Schöpfung. Ergänzend ließe sich die in Zeile zwölf genannte Metonymie für Gott, "dem der Alles schafft und schuf" einführen.

Wie bereits am Fettdruck zu erkennen, wurde "Sein" beiden Isotopien zugeordnet. "Sein" steht als Opponent von "Werden" für Stillstand, etwas abgeschlossenes, ist andererseits auch Synonym für das Geschaffene, die reine Existenz (die Philosophie bietet hierzu genug solcher Anschauung). Hierin besteht die Verbindungsstelle beider Isotopien. Speziell Begriffe wie "Weltseele" und "Weltgeist" (die wiederum in einer gewissen Opposition zueinander stehen, wenn man Geist als rationell annimmt) implizieren, auch wenn tätig (durchdringend, ringend), doch in gewisser Weise unveränderliche Größen, wodurch die genannte Kontaktstelle nicht auf das Sein beschränkt ist. Doch damit nicht genug der sich allmählich zeigenden Vernetzung von Isotopien. Folgende Isotopie kann mit "Einswerdung, Verwischen, Auflösen" betitelt werden:

(Wird gern der Einzelne) verschwinden; löst sich ...; sich aufzugeben; durchdringen; (teilnehmend)

Sich aufzulösen, zu verschwinden, sich aufzugeben und Durchdringung sind deutliche Zeichen für den Wunsch zur Einswerdung mit dem Kosmos, dem gesamten Sein. Ein Begriff vom Allumfassenden zeigt sich auch in der bewußten Großschreibung von "alles", in den Zeilen zwölf, dreiundzwanzig sowie in der Überschrift des Gedichtes, ein roter Faden (Isotopie?), auch im Kontrast zu "allen" in Zeile zweiundzwanzig, das klein geschrieben ist und, mit etwaigem, schon angesprochenen, Bezug auf die Menschheit, nur einen Teil des Ganzen darstellt.

Auch hier wurde die Überlappung mit der im Vorausgegangenen besprochenen Isotopie durch Fettdruck hervorgehoben. Durchdringen, ein gegenseitiges Insichaufnehmen, Diffusion, um wieder technisch zu werden. Beide Isotopien fließen also geradezu ineinander. In starker Opposition zu Begriffen wie "sich verlieren", "sich aufgeben" stehen solche wie:

Wünschen; (wildem) Wollen; (läst´gem) Fordern; (strengem) Sollen; will (2x); darf; muß

Sie bilden eine Isotopie, die für Zwang, Unerfülltheit und dergleichen steht, deren der Sprecher überdrüssig erscheint (Zeile drei). Entscheidend ist auch die Wortwahl in den ersten beiden durch Zeilensprung verbundenen Versen, in denen zwar vom "gerne verschwinden" des Einzelnen, aber nicht von einem "verschwinden wollen", die Rede ist. Wünschen und Fordern drücken eine weite Entfernung vom glücklichen Zustand aus und Sollen ist schon geradezu ein Ausdruck von Fremdbestimmung, Unfreiheit, der man im Verschwinden, Einswerden zu entfliehen hofft. Die letzte Isotopie befasst sich mit, wenn auch kosmischen, trotzdem, sichtbaren Erscheinungen, sozusagen Produkten, oder zumindest Zwischenergebnissen des unendlichen Werdensprozesses:

(reinen) Sonnen; (farbigen) Erden; Sein; das Geschaffne

Das Sein als einen sehr komplexen Begriff dieser Isotopie zuzuordnen, erscheint vielleicht weit hergeholt, es besteht trotz der Ambivalenz des Begriffes jedoch auch zu großen Teilen aus Sicht- oder zumindest Messbarem, was diesen "Kunstgriff" (nenne man es auch ein "Zurechtbiegen") rechtfertigt. Nimmt man dies an, so steht "Sein" im Mittelpunkt von dreien dadurch verbundenen Isotopien und bildet somit einen starken Gegenpol zum Werden und einen zentralen Punkt des nun vorliegenden Netzwerkes.

Auf lautlicher Ebene sei nur, anreißend, auf Zeile vier verwiesen, die eine deutliche Präsenz des Lautes "W" zeigt. Eine Art Hindeuten auf Fragewörter wie "Warum" und "Wieso" und den damit verbundenen Fragestellungen, speziell auf philosophischer Ebene drängte sich dem Verfasser dieser Zeilen auf, was aber nichts bedeuten muss.

Eine Hymne an die Metamorphose? - Hinter der aufgestellten Frage verbirgt sich die Erwägung, ob zwischen Inhalt und Form eine Beziehung besteht. Der steigende Viertakter hat sein Vorbild im lateinischen Hymnenvers[1], die Strophenform, insbesondere das Reimschema, ähnelt der des Volksliedes, die auch vorzugsweise im Kirchenlied Verwendung fand[2], was einen religiösen Bezug vermuten lässt, wobei hier auch zu hoch gegriffen worden sein könnte.


[1] Braak, Ivo/Neubauer, Martin: Poetik in Stichworten: literaturwissenschaftliche Grundbegriffe; eine Einführung. Unterägeri 1990 (Hirt). S. 116
[2] Ebenda: S.129



Das Gedicht "Eins und Alles" findet sich beispielsweise abgedruckt in: Karl Otto Conrady (Hg.), Das große deutsche Gedichtbuch, Artemis & Winkler, 2. Aufl. 1992, S. 166.

Der Verfasser des Gedichts ist Johann Wolfgang Goethe (1749-1832), der sicher mit Abstand bekannteste deutsche Dichter.

Der Rezensent Rüdiger Gellert ist gelernter Koch und Dipl.-Ing. für Lebensmitteltechnologie und studiert derzeit auf dem zweiten Bildungsweg Lehramt (Berufsschule) mit Zweitfach Deutsch. Der obenstehende Beitrag stellte ursprünglich eine Hausarbeit im Fach Lyrikanalyse an der TU Berlin dar.



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