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Wilhelm Lehmann
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Signale


Seewärts hör ich Signale tuten:
Sie schießen die Torpedos ein.
Auf fernen Meeren, nah dem Ohre,
Gesprengter Leiber letztes Schrein.

Der Märzwind greift den Wandernden,
Ich gleite wie auf Flügelschuhn;
Dann bin ich selbst ihm aufgestiegen
Und kann auf seinem Rücken ruhn.

Ein Girren streicht um meine Kniee,
Ein Rebhahn schwirrt am Kleinbahndamm.
Vor aufgerauhter Schlehdornhecke
Säugt Mutterschaf sein erstes Lamm.

Hör ich noch die Signale rufen?
Sie wurden Klang von Roncevalles:
Woran die Herzen eins zersprangen,
Schwebt echoleicht als Hörnerschall.

Mich feit der süße Augenblick.
Die Zügel häng ich ins Genick
Dem Windpferd, daß es schweifend grase.
Huflattich blüht, es springt der Hase.

Die Wolken bauen Pyrenäen,
Der Erdgeist denkt die Vogelreise:
Und ohne daß sie wissen, zucken
In Aufbruchslust die Kuckuckszehen.
Sie landen, höheren Flugs getragen
Als ihn Schrapnells, Granaten wagen.

Ob draußen noch Signale tuten?
Schießt man noch die Torpedos ein?
Schreckt noch das Ohr auf fernen Meeren
Zerfetzter Leiber Todesschrein?

Tief innen übte sich inzwischen
Gesang, der Thebens Mauern baute.
Fang an mit zwiegespaltnem Laute:
Und "heile, heile, heile!" tönt es,
Kuckuck! Kein Fluch der Erde höhnt es.

Granaten und Schrapnells verzischen.



Hinweis: Dieses Gedicht wird hier im Rahmen eines selbständigen Sprachwerks zitiert (§ 51 UrhG).  Weitere Infos




Antonius Reyntjes

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Poesie in Kriegszeiten


Neben anderen, wichtigen Gedichten, die die historischen, politischen und auch die psychologischen Themen (ob von früher oder aktuell heute) behandeln, gefallen mir immer wieder Gedichte von Wilhelm Lehmann (1882-1968), den man einseitig und irreführend zu den "abseitigen" Naturlyrikern zählt, ohne zu prüfen, welcher ganzheitliche Mensch hier welche Ideen und Aufgaben einbezog in makellose, sensible Gedichte poetisch elementarer Kraft.

Er ist fast vergessen; in keinem Schulbuch mehr findet sich ein Text von ihm. Eine Gedicht-Auswahl ist in unserer Zeit nicht auf dem Markt. Die ihm meist zugeordnete "naturmagische Schule" ist nie überholt gewesen, ob jüngere Dichter und Nachahmer nach 1945 sie auch nicht immer kreditierten.

Das Gedicht "Signale" erschien erstmals in dem Gedichtband "Der grüne Gott" (1942); es konnte während der Nazizeit natürlich nicht veröffentlicht werden; Lehmann hat es uns aufgehoben als Zeugnis seiner allseitigen Wahrnehmung, seiner humanen Verpflichtung in Natur und Gesellschaft.

"Signale" als Gedicht (neben anderen Lehmann-Texten) spiegelt nicht die oft kritisierte Realitätsflucht und Zeitenthobenheit der "inneren Emigration" des Dichters oder seiner Freunde Oskar Loerke oder Georg Britting bis 1945.

Die Torpedos, die auf der Meerseite von Eckernförde aus getestet werden (V.2-3), die "gesprengten Leiber" (V.4), "Granaten und Schrapnells" (V.36) halten ein historisches, militärisches Kriegsgeschehen fest, das in das zivile Leben der Deutschen, dann aller Menschen unserer Welt von 1939 bis 1945 mörderisch eindrang. Über "Roncevalles" (V. 14) das Dorf in den Westpyrenäen (vgl. V.21), in dem die militärische Nachhut Karls des Großen 778 ... - jeder kann sich hier und heute kundig machen; Wilhelm Lehmann wollte dies so pädagogisch und aufklärerisch auch in seinen intensiv-lyrischen Gedichten erreichen.

In sein Tagebuch trug er am 27.3.1941 ein: "Man hört immer das Tuten nach dem Abschuß der Torpedos. Ich konnte vorige Nacht absolut nicht einschlafen."

Diesen Signalen der Zerstörung, die das lyrische Ich als Bewohner des Küstenlandschaft in Schleswig-Holstein wahrgenommen hat, wird die Natur als Umwelt, als Lebensraum kraftvoll antithetisch gegenübergestellt: der Märzwind ergreift das wandernde lyrische Ich, das auf diesen aufsteigt (in mythologischen "Flügelschuhen" des Göttersohnes Merkur), um auf seinem Rücken kurzfristig und dichtend auszuruhen.

Hier wird nachvollziehbar, dass das künstlerisch überzeugende Überwinden der faktischen, inhumanen Realität sich auch im Gedicht vollziehen kann, indem an die Stelle der durch Tod und Zerstörung diktierten Realität ein lyrisch und erzählerisch bewältigter Weltausschnitt tritt, der damals nur die private und schulische Sphäre des Dichters befrieden konnte, der aber immer Lebens- und Spielraum der Dichtung für zukünftige Zeiten war.



Das besprochene Gedicht entstand im März 1941. In der ersten Auflage des Gedichtbuchs "Der grüne Gott" (1942 erschienen) konnte es noch nicht veröffentlicht werden; es fand erst Aufnahme in die zweite Auflage, die in Heidelberg 1948 herauskam. Text nach Wilhelm Lehmann: Gesammelte Werke in acht Bänden, Bd.1: Sämtliche Gedichte, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1982, S.116. - Zu diesem Gedicht existiert auch eine Interpretation von Dirk Rühaak.

Der Verfasser Wilhelm Lehmann (geboren 1882) erlebte den Ersten Weltkrieg als Soldat an der Front. Er starb 1968 in seiner Heimatstadt Eckernförde. Weitere Infos zu Leben und Werk bei Wikipedia.

Der Rezensent Antonius Reyntjes (geb. 1944) wurde nach dem Abitur Buchhändler, dann Student, Lehrer am Gymnasium mit den Fächern Deutsch und Erziehungswissenschaft; nach der Pensionierung Fachschreiber für Religions- und Deutsch-Zeitschriften und Gelegenheitsautor. Er arbeit mit an Schüler-Foren wie biblioforum.de oder schoolwork.de.



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