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Gottfried Benn
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Blaue Stunde

I
Ich trete in die dunkelblaue Stunde -
da ist der Flur, die Kette schließt sich zu
und nun im Raum ein Rot auf einem Munde
und eine Schale später Rosen – Du!

Wir wissen beide, jene Worte,
die jeder oft zu anderen sprach und trug,
sind zwischen uns wie nichts und fehl am Orte:
dies ist das Ganze und der letzte Zug.

Das Schweigende ist so weit fortgeschritten
und füllt den Raum und denkt sich selber zu
die Stunde – nichts gehofft und nichts gelitten –
mit ihrer Schale später Rosen – Du.

II
Dein Haupt verfließt, ist weiß und will sich hüten,
indessen sammelt sich auf deinem Mund
die ganze Lust, der Purpur und die Blüten
aus deinem angestammten Ahnengrund.

Du bist so weiß, man denkt, du wirst zerfallen
vor lauter Schnee, vor lauter Blütenlos,
totweiße Rosen, Glied für Glied – Korallen
nur auf den Lippen, schwer und wundengroß.

Du bist so weich, du gibst von etwas Kunde,
von einem Glück aus Sinken und Gefahr
in einer blauen, dunkelblauen Stunde
und wenn sie ging, weiß keiner, ob sie war.

III
Ich frage dich, du bist doch eines andern,
was trägst du mir die späten Rosen zu?
Du sagst, die Träume gehn, die Stunden wandern,
was ist das alles: er und ich und du?

«Was sich erhebt, das will auch wieder enden,
was sich erlebt – wer weiß denn das genau,
die Kette schließt, man schweigt in diesen Wänden
und dort die Weite, hoch und dunkelblau.»



Hinweis: Dieses Gedicht wird hier im Rahmen eines selbständigen Sprachwerks zitiert (§ 51 UrhG).  Weitere Infos




Stefanie Golisch

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Stunde der Illusion - Stunde der Wahrheit


Ein alter Mann. Eine junge Frau. Ein Anderer, abwesend. Das verführerische Rot auf den Lippen der Frau. Eine Schale später Rosen. Ein Augenblick - blaue Stunde - der im Vollzug bereits zur Erinnerung wird: Was ist das alles: er und ich und du?

Ja was ist das alles: Liebe? Lüge? Zitat? Illusion? Es ist ganz ungewiss. Nur eins ist sicher: dies ist das Ganze und der letzte Zug. Das hört sich pathetisch an, aber er, Gottfried Benn, darf das. Er umkreist die Sehnsucht nach ursprünglicher Einheit, dem Zurück in das Nicht-Gespaltensein, und überzieht das Wollen-Nicht-Können mit einer Firniss aus Traurigkeit. Seiltanz am Abgrund der Lächerlichkeit.

All dies ist aber nicht für die Wirklichkeit gemacht, sondern gehört ihr allein: der blauen Stunde, jener Stunde, die die Allmacht der Zeit zerbricht und die Liebenden dazu verführt, die Augen zu verschließen und nicht wissen zu wollen, was sie eigentlich wissen müssten: unmöglich, es geht nicht.

Un-Zeit - und doch nachweislich erlebt an einem Nachmittag im Oktober, es mag so gegen fünf Uhr gewesen sein, die Dämmerung fiel langsam ein, die Schale mit den späten Rosen, dort drüben auf dem Tisch. Mann erfühlt Frau und umgekehrt - oder etwa nicht? Blaue Stunde - die Illusion zu lieben und geliebt zu werden, also unsterblich zu sein. Zwar weiß das Paar nur zu genau um all die Worte, die jeder oft zu anderen sprach und trug - und doch, sie wollen - oder müssen - wieder und wieder gesagtgelogen werden. Es ist die Sucht nach Betäubung, nach Halb-schlaf.

Wahrheit? Illusion? Ist die ideale Begegnung zwischen Mann und Frau, diese letzte aller Utopien, am Ende nur eine milde Täuschung?

Wer wollte dies entscheiden? Die blaue Stunde ist offen wie Himmel und Meer. Und was die Körperseele erfährt, wenn sie sich im sicheren Wissen um die Gefährdung im Augenblick dennoch einem anderen aufschließt als sei es das aller erste Mal, als sei sie niemals betrogen worden und habe niemals betrogen, ist nicht hintergehbar. In ihrer einzigartigen Qualität ist sie das gültige Maß für Scheitern und Gelingen aller menschlicher Möglichkeiten.

Wen kümmert da noch die Geschichte von der jungen Kellnerin und ihrem Geliebten, dem Käsehändler, die Benn angeblich zu diesem Gedicht inspiriert haben sollen? Auch sie haben sich ja längst schon verflüchtigt wie alle unsere großen und kleinen Lieben zwischen Tag und Traum: blaue Stunde, ach -



Das besprochene Gedicht ist veröffentlicht in: Gottfried Benn, Sämtliche Gedichte, Stuttgart 1998, 541 Seiten. Dieser Band ist für 17,- Euro im Buchhandel erhältlich (ISBN 3-608-93449-9). Die Wiedergabe des Gedichts erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages Klett-Cotta; siehe: Literatur bei Klett-Cotta.

Der Verfasser des Gedichts ist Gottfried Benn (1886-1956) - Arzt von Beruf und einer der größten deutschen Lyriker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der mit seinem neuen, charakteristischen Sprachstil eine ganze Dichtergeneration beeinflußte.

Die Rezensentin Stefanie Golisch lebt, liest und schreibt in Italien. Sie bezeichnet "Blaue Stunde" als eines ihrer Lieblingsgedichte.



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